An und hinter Fassaden

An und hinter Fassaden

Hallo Ihr,

Anna hat heute etwas ziemlich krasses erlebt, was uns ziemlich fassungslos macht und sehr an Annas Berufsehre als Malerin kratzt. Das ist aber nicht alles. Es sagt auch einiges über die Wertschätzung mancher Berufszweige in unserer Gesellschaft aus.

Nachdem sie einer Freundin beim Renovieren geholfen hatte, saß sie mit ihrer Arbeitshose im Bus und war auf dem Weg nach Hause. Gegenüber von ihr saß eine Mutter mit ihrer circa neunjährigen Tochter. Das Mädchen fragte ihre Mutter interessiert, warum die Hose von der Frau gegenüber so dreckig sei. Statt auf die Frage zu antworten sagte die Mutter zu ihrem Kind: „Wenn Du dich in der Schule immer anstrengst, dann musst Du keine dreckigen Sachen anhaben.“
Da sind DIE emanzipierte Frau und DER Handwerker in Anna an die Decke gegangen und sie hat der Frau geantwortet: „Ich bin gerne Malerin und muss mich für meinen Beruf nicht schämen.“

Eigentlich hätte sie noch viel mehr sagen können und wollen:
NEIN! Ich war nicht einfach zu dumm und zu faul, um in die Schule zu gehen oder was zu lernen. Ich habe mich nach meinem Schulabschluss bewusst dafür entschieden, eine Ausbildung zur Malerin zu machen, weil ich Dinge mit meinen Händen erschaffen will, die wertvoll sind und anderen eine Freude bereiten. Es ist für mich ein sehr schönes Gefühl, auf einer Baustelle zu stehen, auf der nur rohe Wände zu sehen sind und ein paar Monate später diese Baustelle fertig zu stellen. Es ist einfach toll, wenn dich ein kleines Kind anstrahlt und sich über sein*ihr neues Zimmer im großen neuen Haus freut. Außerdem ist es wunderschön, morgens auf einem Dach zu sitzen und sich den Sonnenaufgang anzuschauen, wenn viele andere noch schlafen und sich im U-Bahn-Jungle verirren. Für diese tolle Aussicht braucht man als Maler*in nicht mal in den Urlaub fahren. Und ja, ich habe nach einem langen Arbeitstag dreckige Hände, aber das macht die Arbeit, die sie verrichtet haben, nicht weniger wertvoll.
Gerade im Lockdown habe ich gemerkt, dass ich jederzeit meinen Schreibtischstuhl wieder gegen die Malerinhose tauschen würde.“

Was diese Frau vergessen zu haben scheint: Als Malerin braucht man nicht nur Muskeln sondern auch Hirn und Kreativität. (Seitdem Anna im Homeoffice Nachhilfe für Berufsschüler*innen gibt, ist Isa regelmäßig beeindruckt, was die alles wissen müssen.)

Handwerk ist verdammt nochmal keine Schande, sondern besteht aus wertvollen, wichtigen und ehrenwerten Zünften, die viel Tradition haben und nicht vergessen werden dürfen. Ohne diese sähe die Welt wahrscheinlich anders aus. Und die Bedeutung der Dinge, die diese Menschen schaffen, ist nicht nur materiell.
Die Handwerkskammer hat das in einer Plakatkampagne ganz gut auf den Punkt gebracht: „Ich ziehe keine Mauern hoch. Ich baue Gott ein Haus.“

https://s-f.com/arbeiten/case/deutsches-handwerk/

Erst durch Anna wurde Isa klar, wie sehr diese fehlende Wertschätzung oft aufs Gemüt schlägt und mit welchen gesellschaftlichen Problemen sich betreffende Menschen konfrontiert sehen. Diskriminierung ist für Nicht-Betroffene oft nicht so leicht sichtbar.
Das zeigt, wie wichtig es ist aus der eigenen Bubble rauszukommen, sich von der Sichtweise andere Menschen bereichern zu lassen und so sich gegenseitig verstehen zu lernen.

Das Erlebnis von Anna macht uns auf zwei Ebenen fassungslos: Fehlende Wertschätzung für das Handwerk und vorschnelles Urteilen über Menschen. Es bestätigt Anna auch nochmal darin, warum sie eigentlich Berufsschullehrerin werden wollte. Auszubildenden im Maler*inhandwerk zeigen, dass es ein schöner und wichtiger Beruf ist, bei dem man viele Möglichkeiten hat, kreativ zu sein, auch wenn man auf den ersten Blick nur die dreckige Maler*inhose sieht. Außerdem ist es ihr wichtig, dass Azubis sich nicht für ihren Beruf schämen, sondern stolz über ihr Handwerk sprechen können. Auch wenn sie öfter mal als „dumm, stark und wasserdicht“ abgestempelt werden.

Wir urteilen zu schnell über Andere, wenn man nur die Fassade anschaut und sich keine Gedanken über den Menschen dahinter macht.
Das Erlebnis heute zeigt auch, dass es viele unterschiedliche Arten von Diskrimierung gibt. Es ist wichtig sich gegen alle stark zu machen und für alle sensibel zu sein! Gegen alle hilft es, hinter die Fassade zu schauen, den einzelnen Menschen zu sehen und ihn*sie nicht in Schubladen zu stecken. Jeder einzelne Mensch hat eine unabdingbare Würde und mit dieser gilt es ihn*sie zu behandeln. Unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Alter, Bildungsstand, sexueller Orientierung, Beruf oder Kleidung!

Außerdem ist es wichtig, dass wir als Gesellschaft wieder (mehr) lernen: Jede Aufgabe ist wichtig! Und jede Aufgabe wird gebraucht. Wir sind alle von einander abhängig. Auch und gerade Handwerker*innen sind ein wichtiger Teil unseres Systems und haben nichts mit Faulheit oder Dummheit zu tun. Wir sollten versuchen, jedem Beruf Wertschätzung entgegenzubringen.

Bis bald auf ein Feierabendbier,
Isa und Anna

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